Seidenmatt!
Dies ist eine Warnung an alle, die glauben, ihre Erinnerungen seien gut aufgehoben bei Facebook, WhatsApp,
Instagram, in i- und sonstigen Clouds, in E-Mail-Anhängen oder digitalen Ordnern mit der Aufschrift:
„Weihnachten 2009“, „80. Geburtstag Opa Gottfried“, „Geburt Paula“.
Die Warnung lautet: Ihr werdet alles verlieren.
Ihr werdet alles verlieren, weil die Festplatte plötzlich spinnt oder weil das Facebook-Konto gehackt wird, weil doch mal
eine Cloud platzt oder ein Webhost pleitegeht oder weil das Smartphone im Taxi liegen geblieben ist. Es reicht oft schon,
dass ein neuer Computer ins Haus kommt, dass kein verdammtes Passwort mehr funktionieren will oder dass ein schönes,
großes Glas Rotwein spätabends auf die Tastatur des Laptops kippt. Dann war’s das mit den schönen Bildern.
Keine Angst: Ich lebe sehr gern in digitalen Zeiten.
Aber ich trauere mindestens so sehr um die analogen alten.
Ich war dabei, als Kodak unterging, im Winter 2012. Der unfassbar große Konzern, eine Ikone des 20. Jahrhunderts,
meldete an seinem Stammsitz Rochester Konkurs an. Ich war damals Korrespondent in Amerika und traf Robert Shanebrook,
einen pensionierten Kodak-Ingenieur, der jahrzehntelang für die Firma gearbeitet hatte und stolz darauf war.
Er war der Typ „rüstiger Rentner“, ein amerikanischer Jedermann, aber beim Abschied drückte er lange meine Hand, sah mir tief in
die Augen und sagte, eindringlich, in feierlichem Ton: „Drucken Sie Ihre Fotos aus. Drucken Sie sie aus! Sonst ist alles weg!“
Ich war dumm. Ich nahm den alten Mann nicht ernst genug, ich knipste einfach weiter, ohne Gedanken an ein Morgen.
Vor allem druckte ich die ganz alten Sachen, die winzigen, kostbaren Bilder aus der Frühzeit der Digitalfotografie, nie aus.
Das war ein unverzeihlicher Fehler. Mir fehlen heute die Fotos aus den ersten Lebensjahren meines ersten Sohnes, es fehlen
Bilder von meinem Vater, von Festen, von Fahrten, von Freunden, es fehlen viele optische Stützen im Gebälk meiner Erinnerung.
Ich hätte es besser wissen müssen, und zwar lange bevor ich Robert Shanebrook in Rochester traf.
Ich hätte mich erinnern müssen an die kostbaren Stunden auf dem elterlichen Wohnzimmersofa, als ich, ein Kind noch,
zwischen Vater und Mutter, zwischen Großmutter und Mutter, zwischen Mutter und Schwestern saß, Fotoalben auf den
Knien, die kohlschwarzen Seiten getrennt von raschelnden Pergaminblättern. An die Dia-Nachmittage, das rhythmische Klicken des Schlittens,
wenn ein neuer Rahmen ins Licht gezogen wurde. An die Abzüge, seidenmatt oder hochglänzend, die die Autos der Sechzigerjahre,
die modischen Verirrungen der Siebziger, die Frisuren der Achtzigerjahre dokumentieren.
Mir ist, in der Rückschau, als hätte mir das gemeinsame Blättern und Schauen und Begreifen alter Fotos ein Gefühl von
Herkunft, Herkommen, Heimat gegeben, ein Gefühl für Familie und Gemeinschaft, ein Verständnis für die Gezeiten des Lebens,
seine uralten, immer gleichen Stationen, die da bis vor Kurzem waren: Geburt, Taufe, Einschulung, Konfirmation, Kommunion.
Hochzeiten, Todesfälle. Weihnachten, Ostern.
Die ganz alten Alben waren mir schon als Kind immer die liebsten. Aus ihnen schauten fremde, ernste Menschen, zu
Gruppen aufgestellt, in dunklen Gewändern, die Frauen in riesigen Röcken, auch die Männer in viele Schichten Stoff gehüllt,
beide Geschlechter mit Hut auf dem Kopf, beide Geschlechter sehr weiß im Gesicht, sehr fremd im Ausdruck.
Ich machte Bekanntschaft mit Urgroßeltern, mit fernen, unbekannten Ahnen, mit Menschen im Gehrock am Strand der
Ostsee, mit Onkeln, gefallen in Kriegen, mit einem Kind im Matrosenanzug, das zu meinem eigenen Vater heranwuchs,
mit Mädchen in Kleidchen mit der Aura von Nonnen, „und der da, der Onkel Heinz“, sagte meine Mutter vielleicht, „hat
gesoffen wie ein Loch“. Und die? „Hat immer erzählt, wie sie den Kaiser Wilhelm in Berlin gesehen hat.“
Die ältesten Fotos, die es in meiner Familie gibt, sind im 19. Jahrhundert entstanden. Sie verbinden, wenn ich die Alben
heute mit meinen Kindern durchblättere, drei Jahrhunderte; drei Jahrhunderte, man stelle sich das nur mal kurz vor.
Das iPhone gibt es seit 2007. Ich hatte erst keins, dann doch und mache seither viele Fotos damit. Aber die meisten der
Bilder sind längst gelöscht oder nicht gelöscht, aber trotzdem verschwunden, in Streams versunken, in Foren verblichen. Wir
machen heute Fotos, aber erzeugen nur Datenspuren, Wölkchen aus Einsen und Nullen, die wie ein Sternennebel unergründliche
Galaxien namens Picasa und Flickr durchziehen.
Aber gut. So ist das, und Jammern hilft nicht. Die Zeiten ändern sich wie die Leute, die Fotos machen und selbst auf
Fotos festgehalten werden. Aber festhalten, darum geht es. Ich erinnere mich, gelesen zu haben, dass Sigmund Freud,
der den Menschen ja doch ganz gut kannte, zu der Erkenntnis kam, dass psychisch gesund auf Dauer nur bleibt, wer die
Stationen seines Lebens sinnfällig miteinander verknüpfen kann. Dabei helfen Bilder. Ich drucke meine jetzt aus, nicht alle, aber viele,
lasse Abzüge machen, Fotobücher, Alben. Wer Fotos nicht ausdruckt, hat bald keine mehr. Und wenn dann mal ein Glas Rotwein
umfällt spätabends, habe ich keinerlei Grund mehr zur Panik. Diese Bilder werden bleiben.
Sie bekommen ein paar Flecken und wellen sich beim Trocknen, aber so tragen sie noch ein paar Spuren gelebten Lebens mehr.
Ullrich Fichtner
Twitter: @UllrichFichtner
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Den Bericht aus "Der Spiegel 35/2015" gibt es auch hier als PDF zum herunterladen!